Schwindende Macht
Das Beispiel des HSV zeigt neue Kräfteverhältnisse im Fußball
Hamburg – Die Unterredung der Klubführung mit dem Mannschaftsrat des Hamburger SV war eine ziemlich einseitige Angelegenheit, und am Ende war klar: der „Spieler-Aufstand gegen die Bosse“ (Bild) war kläglich verpufft. Vergebens hatten die HSV-Profis mit einer in der Fußballbranche noch nicht erlebten Offensive Vertragsverlängerungen für die Kollegen Ingo Hertzsch, 25, und Erik Meijer, 33, reklamiert. Statt dessen verbaten sich Klubchef Bernd Hoffmann und Sportchef Dietmar Beiersdorfer nicht nur „die Einmischung in Personalangelegenheiten“. Sie teilten den beiden Spielern auch mit, sie müssten sich mit einem neuen Angebot weiter gedulden. Bis feststehe, ob der HSV kommende Saison auf europäischer Bühne mitspielen dürfe, gebe es keinerlei finanziellen Spielraum und, vor allem, „andere Prioritäten“.
Die Hängepartie und die ungewöhnliche, aber gescheiterte Solidarität der Profis beschreibt exemplarisch die neue Situation im deutschen Fußball: die Macht der Spieler bröckelt. Sie bröckelt sogar so stark, dass HSV- Regisseur Sergej Barbarez – obgleich einer der Großverdiener – zu einer larmoyanten Generalabrechnung ansetzte. Fußball, jammerte er, sei „kein schönes Geschäft mehr, die menschliche Seite ist nicht mehr wichtig“. Die Klage ist, aus Spielersicht, verständlich. Tatsächlich ist nichts mehr, wie es seit dem Bosman-Urteil vom Dezember 1995 war. Statt den Vereinen die Vertragsbedingungen quasi zu diktieren und die Gagen in Schwindel erregende Höhen zu treiben, müssen Durchschnittskicker inzwischen um ihre Arbeitsplätze bangen. Kenner der Szene haben für den Sommer bis zu 400 arbeitslose Fußballer prognostiziert. Eine der Folgen ist ein dramatischer Kursverfall für jene Profis, die nicht zu den unverzichtbaren Stammkräften gezählt werden – wie Hertzsch und Meijer beim HSV. Sportchef Beiersdorfer sagt es so: „Es wird härter für die Spieler. Wir können uns bei der allgemeinen Finanzlage nicht binden, binden, binden.“
Noch Anfang der Woche etwa hatte Edelreservist Erik Meijer gemutmaßt, beim HSV sei in Wirklichkeit „reichlich Geld da“. Zwei Tage später ließ der sonst so hemdsärmelige Niederländer kleinlaut wissen, er wäre bei einem sofortigen Angebot auch bereit gewesen, auf die Hälfte seines bisherigen Gehaltes (geschätzte 1,2 Millionen Euro) zu verzichten. Jetzt wird er wohl für noch weniger Geld beim Zweitligisten Alemannia Aachen anheuern. Auch Ingo Hertzsch, immerhin Nationalspieler und vor zwei Jahren schon mit Bayer Leverkusen einig, ist nachdenklich geworden. Bayer will ihn nicht mehr, zwei neue Angebote des HSV hatte er abgelehnt. Nun signalisierte er plötzlich, die vor wenigen Monaten noch verschmähte Offerte sei „eine gute Basis, um in Hamburg zu bleiben“.
Die Einsicht kommt, wenn er Pech hat, zu spät. Die einst so prächtige Ausgangslage hat sich für die Profis nahezu ins Gegenteil verkehrt. Der „Sparzwang“ (Beiersdorfer) fordert Disziplin von den durch sinkende Fernseheinnahmen und den Gehälterboom vergangener Jahre gebeutelten Klubs (geschätzter Schuldenstand: 600 Millionen Euro). Längst steht nicht mehr sofort der nächste Arbeitgeber bereit, um die anderswo abgelehnten Wünsche der Spieler zu erfüllen. Hertzsch’ Ankündigung, „noch vor Saisonende“ das Angebot eines anderen Klubs annehmen zu wollen, könnte sich bald als Wunschdenken erweisen.
Denn wie beim HSV, der für die laufende Saison ein Defizit von 12,5 Millionen Euro erwartet, wird auch bei der Konkurrenz intensiv über Kostensenkungen gegrübelt. Das Ergebnis ist fast überall gleich: Um nicht noch tiefer ins Minus zu rutschen, soll der Kader verkleinert werden. Der einzige Bereich, für den der HSV künftig mehr ausgibt, ist die Talentsichtung, für die Chefscout Michael Schröder ein Netzwerk ehemaliger HSV-Spieler geknüpft hat, die auf Honorarbasis arbeiten. „Zehn bis 15 Sichtungen pro Woche“, sagt Beiersdorfer, werden so vorgenommen – vom Länderspiel bis runter zur vierten Liga. Und auch diese Investition soll auf Sicht vor allem eines – beim Sparen helfen.
Spätestens nach dem Treffen mit Hoffmann und Beiersdorfer können sich die Profis über mangelnde Klarheit nicht mehr beschweren. So erläuterten die Bosse ihnen, dass neben dem Abbau einiger Arbeitsplätze die Verpflichtung eines starken Mittelfeldspielers wie Stefan Beinlich Priorität habe und der Kauf des eine Million Euro teuren Fürther U21-Nationalspielers Björn Schlicke (Vertrag bis 2007) ein unverzichtbarer Wechsel auf die Zukunft sei. Für Hertzsch, den zweikampfstarken, aber spielerisch begrenzten Recken ist das kein Trost. Er selbst galt einmal als Wechsel auf die Zukunft. Er hat ihn nur nicht einlösen können.
Jörg Marwedel