Der Bezirk mit 139 Prozent Wahlbeteiligung
ZitatAlles anzeigenPhantom-Wähler, verschwundene Stimmen, Zählcomputer,
die subtrahierten statt addierten: Während in der Wahlnacht
kaum über Probleme beim Urnengang berichtet wurde, mehren sich
inzwischen Informationen über Unregelmäßigkeiten.
Erste Kongressabgeordnete fordern eine Untersuchung.
Glaubt man Greg Palast, dann hat John Kerry die US-Präsidentschaftswahl
gewonnen. "Ich weiß, keiner will's mehr hören", seufzt der investigative
Reporter, Dokumentarfilmer und Bestseller-Autor, der sich mit seinen
Recherchen zum Florida-Wahlfiasko von 2000 einen Namen machte.
Jetzt will er einem neuen Wahlbetrug auf die Spur gekommen sein:
"Kerry hat in den ausschlaggebenden Staaten Ohio und New Mexico
die meisten Stimmen bekommen. Sie sind aber zu Tausenden nicht
gezählt worden."
Ein schwerer Vorwurf, doch er kommt nicht von irgendjemandem.
Palast, wohnhaft in New York und London, arbeitet für die BBC,
den "Guardian" und dessen Schwesterblatt "Observer". Die heimischen
Mainstream-Medien dagegen, so berichtet Palast stolz, als sei das eine
Ehren-Auszeichnung, boykottierten ihn beharrlich, und Floridas Ex-
Innenministerin Katherine Harris hat ihn "pervers und verrückt" genannt.
Palast verdächtigt die Behörden in Ohio (dem Staat, dessen 20 Wahlmänner
die Wahl entschieden) und New Mexico (dem Staat, den Kerry mit knapp
8000 Stimmen verlor), durch "alte und neue Tricks" die Ergebnisse zu
Gunsten von US-Präsident George W. Bush manipuliert zu haben.
Zum Beispiel durch "verdorbene Stimmen", die als "ungültig" unter den
Tisch fielen. Im "Swing State" Ohio, wo oft noch die alten, suspekten
Stanzmaschinen von 2000 zum Einsatz kamen, waren das nach
bisheriger Zählung 92.672 Stimmen. Die meisten dieser "Müllstimmen",
so glaubt Palast, wären in den kritischen Bezirken den Demokraten zu Gute gekommen.
Paranoia oder Realität?
Greg Palast steht mit seiner Behauptung, am 2. November sei nicht alles
mit rechten Dingen zugegangen, längst nicht mehr alleine. Während Kerry
schon am Tag danach aufgab und sich selbst die Bush-kritischen US-
Medien seither bedeckt halten, klammern sich viele waidwunde
Demokraten bis heute an den festen Glauben, diese Wahl sei ihnen,
wie schon die Wahl 2000, "gestohlen" worden.
Die beharrlichen Zweifel am Wahlergebnis - die bereits vor Schließung
der Wahllokale gärten - schlagen sich nicht nur in den alternativen
Medien nieder oder in wütenden Internet-Blogs wie http://www.stolenelection.com
Auch bei Watchdog-Gruppen, Bürgerinitiativen und den Kommunalbüros
der Politiker sind bisher schon Zehntausende von Beschwerden eingegangen.
Der Kerry-Clan verfolgt die Berichte mit Interesse: "Wir ignorieren das alles nicht",
sagte Kerrys Bruder Cameron am Dienstag.
Vieles davon mag reine Verschwörungstheorie sein, Zufall, Verliererschmerz,
Paranoia oder auch nur das übliche Pannenchaos. Anderes aber gibt
zumindest Anlass zum Aufhorchen.
Kerry-Stimmen für Bush
Die meisten dieser Vorwürfe kommen aus Ohio, dem "neuen Florida",
wie es die Blogger getauft haben. Hier, unter der Aufsicht des
erzkonservativen Innenministers Kenneth Blackwell, gewann Bush
mit einer Mehrheit von 136.483 Stimmen - vorbehaltlich von 155.428
"provisorischen Stimmzetteln", deren Sichtung ja erst an diesem
Wochenende beginnen soll.
Schon jetzt aber gibt es Ungereimtheiten. So verbuchte eine Wahlmaschine
in einem eher republikanischen Vorort der Hauptstadt Columbus 4258
Stimmen auf Bushs Konto - obwohl dort nur 638 Leute gewählt hatten.
Wahlleiter Matthew Damschroder, ein vormaliger Bezirkschef der
Republikaner, erklärte das "Supersizing der Bush-Stimmen"
(so die Lokalzeitung "Columbus Dispatch") schnell mit einem
technischen "Schluckauf".
Ähnliche "Schluckaufs" gab es jedoch auch in Cleveland, wo 93.000 fiktive
Extra-Stimmen entdeckt wurden, und ironischer Weise in dem Ort
Miami/Ohio, wo ein Zählautomat 19.000 mysteriöse Phantom-Stimmen
addierte. In Youngstown/Ohio behaupten Demokraten, dass die
Maschinen ihre Stimmen nicht für Kerry, sondern für Bush registrierten.
10.000 Stimmen doppelt gezählt
In Auglaize in Nordohio kursieren Gerüchte, ein Ex-Mitarbeiter des
Wahlmaschinen-Herstellers ES&S habe kurz vor der Wahl unerlaubt
Zugang zum zentralen Computersystem gehabt. Im Bezirk Warren
verbarrikadierten sich die Wahlleiter zum Zählen der Stimmen
"zwecks Heimatschutz" hinter verschlossenen Türen - ein noch nie
dagewesener und womöglich illegaler Vorgang. Hier gewann Bush mit
41.124 Stimmen Vorsprung.
"Die Beweise verdichten sich, dass die Wahl in Ohio gestohlen wurde",
sagt Bob Fitrakis, ein Soziologe am Columbus State Community College
und liberaler Kolumnist. Ohios Innenminister Blackwell weist solche
Vorwürfe als Spinnereien des Internet-Zeitalters zurück: "Es gibt ja auch
Websites, die behaupten, dass die Mondlandung nicht stattgefunden habe",
erwidert Blackwells Sprecher James Lee.
Doch nicht nur in Ohio ging es rund. Im Ort Papillion im Bundesstaat
Nebraska wurden 3342 Stimmen gezählt - 400 mehr als Wahlberechtigte.
Insgesamt schätzt das Wahlamt, dass in dieser Ecke Nebraskas
"bis zu 10.000 Stimmen doppelt gezählt" worden seien. Noch bizarrer wird
es auf der Website des zuständigen Bezirks Sarpy. Die beziffert die
offizielle Wahlbeteiligung auf 139,93 Prozent: 82.607 Wahlberechtigte,
115.593 abgegebene Stimmen, eine mysteriöse Differenz von 32.986
Stimmen - über 10.000 mehr als Bushs Vorsprung im Endergebnis.
Im Bezirk Carteret in North Carolina gingen dagegen 4530 Briefwahl-
Stimmen "verloren" und können, da die Wahlcomputer keinen
Papierausdruck haben, auch per Recount nicht mehr rekonstruiert werden.
Möglicherweise muss hier nun komplett neu gewählt werden. Anderswo
im Bundesstaat wurden nachträglich 22.000 Stimmen für Kerry entdeckt.
Die Bürgergruppe Count Every Vote 2004 (CEV2004) hat Hunderte
"Unregelmäßigkeiten" in rund 700 Wahllokalen in den Südstaaten
protokolliert, wo Bush kräftig abräumte: lange Wartezeiten, mechanische
Defekte, nicht genügend Stimmzettel, Einschüchterung von Wählern.
Besonders davon betroffen gewesen seien Minderheiten und Arme.
"Selbst wenn die Vereinigten Staaten eine starke Demokratie sind",
sagt CEV-Chefaktivist Keith Jennings, "sind sie auch eine mangelhafte
Demokratie."
Blackout der großen Medien?
"Wir haben das ungute Gefühl, dass wir nur die Spitze des Eisbergs sehen",
sagt Cindy Cohn, die Justitiarin der Bürgergruppe Electronic Frontier Foundation.
Auch die Watchdog-Gruppe People for the American Way (PFAW) beklagt
eine "irreparable Beschädigung der Bürgerrechte". Doch je länger die
Wahl zurückliegt, desto schwerer fällt es, all diese Meldungen sinnvoll
auseinander zu sortieren.
Zumal die meisten etablierten US-Medien offenbar beschlossen haben,
die Sache vorerst auf sich beruhen zu lassen. Selbst das linke Wochenblatt
"Nation" beantwortet seine eigene Überschrift "Wurde die Wahl gestohlen?"
mit einem zögerlichen "wahrscheinlich nicht". Greg Palasts These vom
Stimmenklau in Ohio, schreibt "Nation"-Politikchef David Corn,
sei "höchst unwahrscheinlich" und "vielleicht der Beginn eines Falls,
aber kein Fall für sich".
"Die großen Medien leiden an einem Blackout", kritisiert dagegen David
Swanson, der Medienkoordinator der Journalistenvereinigung ILCA.
Nur ein paar Lokalzeitungen und TV-Sender blieben dem Thema noch
auf den Fersen. Dabei sei der Skandal doch nicht nur, ob die Unregelmäßigkeiten
das Wahlergebnis verändert hätten, sondern dass es überhaupt zu
Unregelmäßigkeiten gekommen sei.
Nicht alle haben aufgegeben. Die drei demokratischen Kongressabgeordneten
John Conyers, Jerrold Nadler und Robert Wexler haben den US-
Rechnungshof GAO jetzt aufgefordert, den Zweifeln am Ablauf
der Wahl "dringend" nachzugehen. "Wir bekommen täglich neue Beschwerden",
schrieben sie am Dienstag in einem Brief an GAO-Chef David Walker. "Bisher sind es über 30.000."
Bushs Vorsprung - 3,5 Millionen Stimmen
Doch selbst wenn zehntausende Stimmen falsch gezählt oder
unterschlagen worden sein sollten bleibt festzuhalten: Nach dem
bisherigen Ergebnis hat Präsident Bush bei der US-Wahl am 2. November
59,7 Millionen Stimmen erhalten - sein Herausforderer John Kerry nur
56,2 Millionen. Und niemand behauptet bisher, dass bei der Wahl mehr
als 3,5 Millionen manipuliert wurden. Nach absoluten Stimmen hat Bush
die Wahl also klar gewonnen.
Zum Sieg in Ohio - und damit zur Mehrheit der Wahlmännerstimmen-
hätten Kerry zwar rund 130.000 zusätzliche Stimmen genügt, doch auch
dieser Vorsprung Bushs war den Demokraten viel zu groß, um sich
erneut auf juristische Scharmützel einzulassen. Bisher.
QUELLE. [url=http://www.gmx.net/de/themen/nachrichten/ausland/us-wahl/berichte/573498,page=1.html]GMX.DE[/url]