ak - analyse & kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 506 / 19.5.2006
Gibt es "linken" Fußball?
Ein Auszug:
Interview mit Dietrich Schulze-Marmeling
ak: In dem von dir herausgegebenen Buch "Der gezähmte Fußball", erschienen 1992 im Göttinger Werkstatt-Verlag, machen sich diverse Autoren Sorgen um die Zukunft dieses potenziell "subversiven" Sports. Die fiktive Expertenrunde im Epilog endet allerdings mit einem hoffnungsvollen Ausblick: "Auf irgendeine seltsame Art schafft es der Fußball immer wieder, sich selbst aus dem Sumpf zu ziehen", lässt Matti Lieske den französischen Superstar Michel Platini sagen. Hat "Platini" Recht behalten?
Dietrich Schulze-Marmeling: Ja, er hat Recht behalten. Dieses Spiel erweist sich als erstaunlich resistent. Auch seine hemmungslose Kommerzialisierung hat es nicht kaputtgekriegt. Wir haben damals sehr unhistorisch argumentiert, hätten es besser wissen müssen. Auch Anfang der 1960er befand sich der Fußball in einer schweren Krise: die "Treter-WM" in Chile mit einem Minusrekord an erzielten Toren, Helenio Herrera und sein Catenaccio, die hässlichen Szenen bei den europäisch-südamerikanischen Duellen um den Weltpokal der Vereinsmannschaften etc. Acht Jahre später wurde in Mexiko eine von Offensivgeist und Fairness geprägte WM gespielt, die noch heute als beste in der Geschichte des Turniers gilt. Offensichtlich verfügt das Spiel über erstaunliche regenerative Fähigkeiten. Heute wird ein technisch und athletisch anspruchsvollerer Fußball gespielt als jemals zuvor - siehe die EM 2004, siehe einige Spiele und Teams in der Champions League. Dass das Finale hier Barcelona gegen Arsenal lautet, ist doch großartig.
Die Bundesliga muss ich von dieser eher positiven Beurteilung allerdings ausschließen, denn diese hinkt der Entwicklung in einigen anderen europäischen Ländern eindeutig hinterher. Und dies bereits seit Jahren. Die so genannten deutschen Tugenden und das "Wunder von Bern" sind längst zum Fluch verkommen.
Und doch gibt es ein Problem, das Socrates im Spiegel (1.5.06) korrekt anspricht. Aufgrund der Entwicklung zum "Hochgeschwindigkeitsfußball" werden die kreative Gestaltung und die "individuelle Einlage" immer schwieriger. An den potenziellen Kreativ-Spieler werden physisch, technisch und mental höhere Anforderungen gestellt als noch zu den Zeiten von Socrates. Da stoßen viele Fußballer an "natürliche" Grenzen. Aus dieser Situation können sich nur die ganz Großen der Branche - wie etwa Ronaldinho - befreien.
Vordenker eines "linken" Fußballs war seinerzeit Cesar Luis Menotti, der Trainer der argentinischen Weltmeistermannschaft von 1978. In einem neueren Buch des Werkstatt-Verlages über die "Strategen des Spiels", die großen Trainer, wird der "Menottismus" ziemlich nüchtern gesehen. Teilst du diese kritische Sicht auf dein einstiges Idol?
Die Person Menotti ist immer stark verklärt worden - auch von mir. Ein wohl typisch linkes Phänomen, das ja auch im Glaubensstreit um "linken" und "rechten", "offensiv-kreativen" und "defensiv-destruktiven" Fußball seinen Ausdruck findet. Wenn sich jemand im Sinne unserer Gedankenwelt äußert, sind wir angesichts dieser "schrecklichen Welt" und unserer relativen Isoliertheit so überglücklich, dass wir diese Person sofort für uns vereinnahmen, ihr alles Mögliche andichten, jegliche wissenschaftliche Betrachtung und Distanz über Bord schmeißen. Nichtsdestotrotz attestiere ich der Person Menotti und ihren Aussagen einen gewissen propagandistischen Wert.
Gibt es überhaupt noch linken Fußball? Wodurch zeichnet er sich aus?
Eine Frage, die schon damals schwierig zu beantworten war. Liverpools Trainer Bill Shankly war ein militanter Sozialist, stellte deshalb das Kollektiv in den Vordergrund. Manchesters Matt Busby hegte ebenfalls Sympathien für den Sozialismus, betonte aber die Bedeutung des Individuums, hatte stets Spieler "mit Flair" in seinen Reihen und wollte die Siege auch "mit Flair" erringen.
Franz Beckenbauer hat vom FC Bayern jahrelang einen kreativeren und unterhaltsameren Fußball gefordert. Ist Franz Beckenbauer also ein Propagandist des "linken Fußballs"? Der FC St. Pauli spielt nicht gerade brasilianisch oder niederländisch auf. Ist der FC St. Pauli deshalb eine eher rechte Angelegenheit? Wenn der FC St. Pauli eine technisch und spielerisch überlegene Bayern-Mannschaft niederkämpft, den Künstlern im Bayern-Team den Schneid abkauft und dadurch ins Pokalfinale einzieht: Ist das dann ein Sieg des "linken" oder des "rechten" Fußballs? Oder hat ein "linker" Verein dank einer "rechten" Strategie gesiegt?
Gleichzeitig kann man nicht leugnen, dass der Fußball der Brasilianer oder Niederländer eher dazu geeignet ist, ein linkes Lebensgefühl zu befriedigen, als der biedere Kick einiger anderer Länder. Er ist relativ offensiv, räumt (einigen!) Individuen relativ viel Raum ein, bietet an guten Tagen einen ästhetischen Genuss. Und doch steckt auch im Fußball dieser Länder mehr System, als uns lieb ist.
Vermutlich ist es viel einfacher, "rechten" Fußball zu definieren: Die Spieler werden in ein enges taktisches Korsett eingebunden, das dem Individuum keine Freiheiten einräumt. Es dominieren Kampf und Disziplin, der Gegner wird durch übertriebene Härte eingeschüchtert, und es wird an soldatische Tugenden appelliert. Als Vertreter "rechten Fußballs par excellence" lässt sich vielleicht der Weltmeister von 1934 charakterisieren, zumal in seinem Falle auch noch die politischen Rahmenbedingungen "stimmten" (der Mussolini-Faschismus). Italiens Trainer Vittorio Pozzo ("il metodo") verpasste dem Land erstmals das Image eines Horts des Defensivfußballs. Italien 1934 galt als "hässlicher Sieger".
Um unseren LeserInnen ein bisschen Orientierung zu geben: Von welchen Mannschaften ist bei der bevorstehenden WM am ehesten linker Fußball zu erwarten? Für wen lohnt es sich Partei zu ergreifen?
Meine persönliche Vorliebe gilt den Niederländern. Es ist unglaublich, was dieses Land seit Mitte der 1960er an großartigen Fußballern hervorgebracht hat. Und trotzdem existieren auch hier eine Reihe von Klischees. Es wird ja immer gerne behauptet, die Niederländer erfreuten sich mehr am schönen Spiel denn am Sieg. Weshalb Cruyff und Co. die Niederlage von 1974 nicht weiter tragisch nehmen und sich als eigentliche Sieger des WM-Finales fühlen würden. In Wahrheit war dies ein zutiefst tragischer Moment für den ("linken") Fußball. Ein Weltmeister Niederlande wäre - zumal in Anbetracht der bevölkerungsmäßigen Underdog-Position - zu dem Symbol und Hoffnungsträger eines "linken" Fußballs schlechthin avanciert. Ein Sieg von Cruyff und Co. und ihres "totaal voetbal" hätte stilbildende Konsequenzen gehabt und nebenbei noch ein niederländisches Trauma beseitigt. Cruyff und Co. haben seinerzeit im politischen wie fußballerischen Sinne eine riesige Chance vertan, was mich noch heute stinksauer macht. Ganz abgesehen davon: Dass sich auch Niederländer über Siege freuen, zumal wenn der Gegner Deutschland heißt, hat man bei den ausgelassenen Feiern nach dem EM-Triumph von 1988 gesehen. Das war der größte Massenauflauf seit der Befreiung von der nationalsozialistischen Besatzung.
Heute wird in den Niederlanden viel härter gespielt, als hierzulande vielfach angenommen. Richtig ist, dass die Ausbildung in den Niederlanden deutlich technikbetonter ausfällt als bei uns, und dass sich der größere Stellenwert des Individuums in der niederländischen Gesellschaft auch im Fußball manifestiert. Die Ära Cruyff hat gewisse ästhetische Vorgaben geliefert und Standards gesetzt. Dass dieser Fußball, anders als der der bundesdeutschen Nationalelf von 1972, Dauerhaftigkeit erlangte, wurde dadurch erleichtert, dass die Erfolgsstory des niederländischen Fußballs erst mit der Ära Cruyff begann. Wir hatten zuvor bereits unsere tapferen "Helden von Bern", deren Schatten sich selbst die Elf von 1972 nicht so richtig entziehen konnte.
Ansonsten wird das Ideal eines linken Fußballs natürlich noch am ehesten von Brasilien erfüllt.
(...)
Im Verlag Die Werkstatt (Göttingen) erschien kürzlich "Die Geschichte der Fußball-Weltmeisterschaft", herausgegeben von Dietrich Schulze-Marmeling und Hubert Dahlkamp, 592 Seiten, 24,90 EUR; außerdem das "WM-Lexikon", herausgegeben von Dietrich Schulze-Marmeling und Hardy Grüne, 192 Seiten, 9,95 EUR.
"Wir sind hierher gefahren und haben gesagt: Okay, wenn wir verlieren, fahren wir wieder nach Hause." (Marco Rehmer)
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