SV ERZHAUSEN - KSV HESSEN 4:5 (1:2)
Der Wahnsinn von Erzhausen
Der wohl verrückteste Oberliga-Spieltag seit Jahren sorgte dafür, dass der KSV Hessen nur noch sechs Punkte Rückstand auf Spitzenreiter Darmstadt hat. Während die Lilien beim Spitzenspiel in Fulda nicht über ein 3-3 hinaus kamen, siegten die Löwen in einem hochdramatischen Spiel in Erzhausen mit 5-4. Das Siegtor erzielte Christoph Keim Sekunden vor dem Schlusspfiff.
Seit einigen Tagen sorgt der Fussball-Epos "Das Wunder von Bern" für volle Kino-Kassen. Und manch einer soll schon dabei erwischt worden sein, wie er sich bei betrachten dieses Filmes ein Tränchen aus dem Gesicht wischte.
An diesem ersten Novembersamstag des Jahres 2003 sorgte ein scheinbar ganz normales Oberliga-Spiel dafür, dass Emotionen geweckt wurden, die man sonst nur von Endspielen her kennt. Und am Ende gab es es auch hier ein paar Tränen. Bei Siegern und Verlierern, bei Zuschauern und bei Spielern. Der Wahnsinn von Erzhausen.
Gut, es ging um einiges in diesem Spiel. Da parallel die Partie Fulda gegen Darmstadt ausgetragen wurde, war von vornherein klar, dass was passieren würde an diesem 16. Oberliga-Spieltag. 11 Punkte Rückstand auf Darmstadt oder nur 5 - die Bandbreite der Möglichkeiten war groß. Und damit auch die Spanne zwischen Sekt oder Selters - neuer Hoffnung oder Ende aller Träume.
Das die Partie letztlich 5-4 für die Löwen endete war Zufall. Purer Zufall. Hätte das ganze nur fünf Minuten länger gedauert, wäre das Spiel vermutlich 6-5 oder 6-6 ausgegangen.
Es war ein Spiel, das man nicht mit normalen Maßstäben messen kann. Taktische Vorgaben der Trainer wurden in den Wind geschlagen. "Man kann von aussen nichts mehr tun, wenn so ein Spiel erst mal läuft. Man kann nur darauf hoffen, dass man bald wieder das nächste Tor macht", stöhnte nach dem Spiel ein sichtlich mitgenommener Thomas Freudenstein.
Beide Mannschaften stürmten drauf los, erspielten sich Torchancen im Minutentakt, übertrafen sich mit haarsträbenden Abwehrfehlern und sorgten damit für eine Partie, die wohl keiner der 650 Zuschauer so schnell vergessen wird. Ein Wechselbad der Gefühle, eine Bandbreite zwischen "zu Tode betrübt" bis zu "himmelhoch jauchzend". Der Wahnsinn wurde noch komplettiert durch die Zwischenergebnisse aus Fulda. Während es lange Zeit so aussah, als wenn der KSV nicht nur sein Spiel in Erzhausen vergeigen würde, führten zu allem Überfluss auch noch die Darmstädter Lilien über weite Strecken dieses dramatischen Fussball-Samstags. Um am Ende mit nur einem Punkt dazustehen, während der KSV bei der Torlotterie in Erzhausen den Hauptgewinn zog. Ein Happy-End, so wie im Film.
Was war passiert im ländlichen Erzhausen, direkt vor den Toren von Darmstadt? Schilderungen können nicht das wiedergeben, was Fans, Spieler und Offizielle in diesen Atemberaubenden neunzig Minuten erlebt haben. Gut, probieren wir es trotzdem.
Die Löwen starten gut, spielen offensiv und selbstbewusst. Fast folgerichtig das frühe 1:0 durch Thorsten Bauer. Nach schöner Links-Flanke von Chalaskiewicz schiebt der Blondschopf den Ball in die Maschen. Das hatten sich alle gewünscht beim KSV. Ein rasches Tor, das die Nerven schont. Das dafür sorgt, dass der Gegner kommen muss und sich damit für Sandiford und Co neue Räume öffnen. Denkste! Fast im Gegenzug der Ausgleich. Ohne ernsthaft angegriffen zu werden können die Erzhäuser kombinieren, Messinese steht frei - Ausgleich. Danach ein Bruch im Spiel der Löwen. Der KSV verliert den Faden, Erzhausen ist mit seinen schnellen Angriffen gefährlicher. Nach einer halben Stunde ist der KSV wieder da. Kopfball Krause, Schuss Bauer - immerhin, es tut sich wieder was. Das muss es auch, denn Darmstadt führt zu diesem Zeitpunkt in Fulda mit 1:0. Wenn jetzt Schluss wäre, hätten die Lilien zehn Punkte Vorsprung.
Dann die 38. Minute. Langsam wird deutlich, dass es ein kurioses Spiel geben könnte. Kurz hinter der Mittellinie will ein Erzhäuser den Ball zum eigenen Torwart zurückspielen. Ungefährlich sieht das aus. Scheinbar sinnlos spurtet Matthias Rudolph hinterher. "Junge, spar die Kraft" brüllt ein fürsorglicher Zuschauer aus Südhessen. Doch Torwart Sascha Sorger haut unbedrängt über den Ball, die Kugel rollt in Richtung Tor und der durchgestartete Rudolph besorgt den Rest. Welch ein Tor.
Zwei Minuten später eine Chala-Ecke, Krause mit dem Kopf - doch ein dunkelblauer haut den Ball noch von der Linie. Der Gegenzug. Die KSV-Abwehr wird überlaufen, Messinese völlig frei vor Zeljko - doch der Löwen-Keeper behält die Nerven. Durchatmen. Aber was ist mit der KSV-Abwehr los?
Halbzeit in Erzhausen 2:1 für die Löwen - und in Fulda? Da haben die Osthessen noch kurz vor der Pause den Ausgleich gemacht. "So muss es bleiben", jubelt ein Kasseler Zuschauer. Der Rückstand für den KSV beträgt plötzlich nur noch sechs Punkte auf die Lilien.
Dann die zweite Halbzeit. "Erstmal ruhig spielen, den Gegner stören", so die Anweisungen des KSV-Trainers. Usta spielt nun für den blassen Sandiford, bei Erzhausen mit Keles für Ispir ein weiterer Stürmer. Und der hat gleich einen tollen Einstand. Weite Flanke in den KSV-Strafraum, Schönewolf stört den eingewechselten Türken nicht energisch - Tor. Nach nur fünf Minuten in Durchgang zwei sieht alles wieder anders aus. Wenige Sekunden später wieder Fehler in der KSV-Deckung durch Markus Krause, Zoran Zeljko, sehr weit vor dem Tor, Messinese lupft den Ball aus 30 Metern - Tor für Erzhausen. Während die KSV-Fans mit dem Kopf schütteln, jubeln nun die Anhänger der Gastgeber. Unfassbar, innerhalb von nur 120 Sekunden wurde die wunderbare Ausgangsposition komplett verzockt.
Freudenstein versucht nochmal alles. Bringt mit Nebe und Owusu zwei neue Offensivkräfte, opfert dafür "Staubsauger" Busch, der ein starkes Spiel machte. Zwischendrin die Kunde: Darmstadt führt wieder in Fulda. Das heisst nun 11 Punkte Rückstand.
Nur noch 22 Minuten in Erzhausen. Die Zeit rennt. Freistoss Chala, Schönewolf mit dem Hinterkopf - der Ball ist im Tor. Unglaublich, 3:3. Eine Minute später Bauer frei vor Sorger - kein Tor. Dann im Gegenzug Desta frei vor Zeljko - wieder kein Tor. Beide Teams ohne Verteidigung. Wieder eine Minute später Owusu frei - Sorger wehrt ab.Und es kommt noch toller. Die Löwen nun vollkommen offensiv, Nebe lässt zwei Gegner austanzen, Flachschuss und das Toooooooor. 4:3 für die Löwen. Da ärgert es die Fans auch nicht mehr groß, dass Darmstadt inzwischen auf 3:1 erhöht hat.
Doch die Löwen zeigen hinten weiter Nerven. 80. Minute, Bradasch drückt den Ball über die Linie 4:4, wieder die Führung verspielt. Analog zu den Abwehrreihen verliert nun der Stadionsprecher komplett den Überblick. Der Treffer wird nicht angesagt, auf der Anzeigetafel leuchtet weiter das Ergebnis 3-4. Erst nach einigen Minuten hat der Mann am Mikrofon sein Versäumnis erkannt, nennt das 4:4, während auf der Anzeigetafel plötzlich als Ergebnis 5-4 angezeigt wird. Doch das scheint nicht weit zu sein. Im KSV-Strafraum brennt es lichterloh. 82. Minute, Messinese plötzlich völlig frei vor Zeljko - der Torwart hält. 30 Sekunden später Schuss vom wuseligen Keles - Zentimeter am linken Torpfosten vorbei. Was ist denn heute da hinten los? In der Zwischenzeit hat Fulda auf 2-3 verkürzt, doch was nutzt das, wenn der KSV seine eigenen Hausaufgaben nicht erledigt? "Ich brauche Herztropfen" schreit ein Zuschauer.
Dann die 88. Minute. Nun ist die Erzhäuser-Deckung nicht mehr existent. Schöner Pass auf Adem Usta, der völlig frei vor Sorger - das muss es sein, der Sieg für die Löwen - doch Usta schiesst den Torwart an.
"Tor für Fulda - 3:3" schreit ein Zuschauer, der über Handy informiert ist. Ist das alles noch Realität oder ein Kinofilm? "Immerhin, der Rückstand auf Darmstadt ist nicht größer geworden", meint ein KSV-Fan. Aber noch sind beide Spiele nicht aus.
90. Minute. Der KSV nochmal über rechts, Chala zu Bauer, der in die Mitte gepasst - und da steht Christoph Keim. Toooooooor - 5-4. Unglaublich. "Ich hab den Ball nur kommen sehen und gar nicht mehr groß nachgedacht", strahlte der Torschütze später. Während die Erzhäuser zu Boden sinken, vollführen KSV-Fans und Spieler Freudentänze, als wenn man gerade den Aufstieg in die Regionalliga geschafft hätte.
Schlusspfiff. Fans und Spieler liegen sich in den Armen. Wäre es ein Film gewesen und kein Fussballspiel hätten die Kritiker von einem kitschigen Happy-End gesprochen. Doch es war kein Film, es war Realität. Weder Erzhäuser noch Kasseler können verstehen, was gerade abgelaufen ist und diskutieren noch minutenlang auf dem Platz. Auch in Fulda ist inzwischen Schluss.
Durchatmen! Nun sind es nur noch sechs Punkte auf Darmstadt und drei auf Fulda. Neue Hoffnung für den KSV.
Oliver Zehe